• Ich frage mich, warum der Kapitalismus so widerstandsfähig ist. Insbesondere interessiert mich diese Mär der „Alternativlosigkeit“ und der Umstand, dass sozialdemokratische Reformen am Wesen der Gesellschaft so wenig ausrichten können? Die Analyse des großen Ganzen ist ja stimmig: Die Akkumulation vom Kapital, die Tendenz zu Monopolen, die Zyklen der Zerstörung, die Entfremdung, die Globalisierung. Zu all diesen Fragen gäbe es gute und schlüssige Antworten und auch Handlungsanweisungen. Aber selbst linke Regierungen mit hehren Zielen scheitern schon nach einer Legislaturperiode an den Mühlen der Resilienz der Beharrungskräfte, an Korruption oder an der Versuchung der Diktatur.

    Nicht immer – aber zumeist – ist Kapitalismuskritik ein atheistisches Ding und ich glaube, hier liegt auch der Ursprung einer verkürzten Analyse. Berthold Brechts berühmtes Zitat „Zuerst das Fressen, dann die Moral“ wird gerne als Argument für einen materialistischen Blick auf das Wesen des Systems herangezogen. Luis Buñuel hat aber schon zu Zeiten des monochromen Bewegtbildes schön dargestellt, dass Armut noch keinen guten Menschen macht. Meine Ansicht ist, dass das Übersehen einer ethischen Perspektive auf die Gegenwart der Grund dafür ist, warum der Kapitalismus noch lange nicht tot ist.

    Das verheerende an der verkürzten Analyse der Gesellschaft schafft dann so Momente, wo die berechtigte Kritik einer vermögenden Elite in Antisemitismus abgleitet und damit beweißt, dass das Gift des 20. Jhdts. und sein Wahnsinn immer noch so tief in unserer Wahrnehmung der Gegenwart verankert sind. Bleiben wir bei dieser Elitenkritik und z.B. bei der berechtigten Forderung nach einer Vermögenssteuer: Hier ist ja insbesondere bemerkenswert, dass nicht alle Vermögenden dagegen sind. Ganz vehement aber diejenigen, die sich in ihrer Phantasie ausmalen, einmal so reich werden zu können. Der Grund, warum sich eine Vermögenssteuer nicht durchsetzen kann, liegt nicht nur darin, dass das Eine Prozent erfolgreich dagegen lobbyiert (und die Phantasie darüber wird dann so leicht zu einer ganz bunten Verschwörung), vielmehr hat diese Forderung keine Chance, weil sich die Hälfte der Bevölkerung von dieser Maßnahme bedroht fühlt 1. In maßlose Selbstüberschätzung aber auch in entlarvendem Narzissmus.

    Hier komme ich zu meiner Grundthese: Der Kapitalismus hält sich so erfolgreich nicht nur, weil er materialistisch dazu in der Lage ist, sondern auch, weil er die Emotionen der Menschen bedient: Gier, Lust am Luxus, Egoismus, Überheblichkeit und die Erotik der Macht. Es sind diese individuellen Charaktereigenschaften, die es immer wieder verunmöglichen, das System an der Wurzel zu packen. Und warum ist dies gerade jetzt ein Problem?

    Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte

    Von der Feindesliebe, Mt. 5.45

    Ich habe eine Phantasie. Was wäre, wenn unser Begriff von Gerechtigkeit vergiftet ist. Wenn es unser Individuum vergiftet, indem wir davon ausgehen, dass Gerechtigkeit eine individuelle Kategorie ist? Was passiert durch eine individuelle Vorstellung von Gerechtigkeit? Wir denken, wir hätten Anspruch. Wir verlangen nach unserem Teil und genießen die Macht, die uns unser „Anrecht“ verschafft. Wir kaufen damit unsere Umwelt oder wählen damit die falschen Parteien.

    Wir werden uns von der Idee verabschieden müssen, dass wir auf irgendetwas Anspruch hätten. Die Welt ist nicht unser, sie ist da. Wir erfahren das Geschenk der Existenz, aber wir haben kein moralisches Recht auf Aneignung. Das ist ein kleiner feiner Unterschied. Aber er ist wesentlich und findet sich in so vielen Erzählungen der Religionen dieser Welt. Was meint die christliche Demut? Wovon spricht die buddhistische Leidenschaft? Warum gibt es so viele Regeln im Koran? Wieso handelt Konfuzius so defensiv? In diesen Erzählungen steckt viel Weisheit aus der Oral History der Menschheit, davon bin ich überzeugt! Gott ist inzwischen restlos vernichtet worden, aber wenn wir auf unser Bauchgefühl hören, dann spüren wir doch, dass jetzt in unserer Welt ein Vakuum herrscht. Ich will hier kein Mittelalter heraufbeschwören! Ich bin froh, dass die Aufklärung die Macht der Priester beendet hat und ich wünsche mir auch keine neue Priesterschaft herbei. Ich wünsche mir von den Menschen aber eine Rückbesinnung auf eine Sensibilität für Relevanz in ihrer Existenz. Diese kann nicht im Geld liegen. Sie kann auch nicht im Leid anderer Menschen liegen. Sie kann nicht am puren Überleben liegen.

    Wenn wir zu Liebe fähig sind, dann spüren wir die Kraft von Selbstlosigkeit. Es blitzt in genialen Momenten auf, bei Konzerten, Parties, Ansammlungen und Festen. Der Mensch ist so schön, wenn er nicht auf sich selber achtet! Wieso wird das nicht gesehen?

    Fußnoten
    1. Es gibt Umfragen die behaupten, 70% der Bevölkerung wären für eine Vermögenssteuer. Mit Umfragen habe ich aber ein Problem, weil sie für mich keine Beweise sind. Für mich ist der Wert einer Umfrage seit der Regierung Kurz/Strache nicht mehr vorhanden und es braucht eine Zeit, bis ich hier wieder Vertrauen fassen kann. De facto gibt es im österreichischen Parlament keine Mehrheit für eine Vermögenssteuer. ÖVP, FPÖ und Neos sind dagegen. Das meine ich mit „Mehrheit in diesem Land“. ↩︎
  • Es ist spannend, dass die Rechte mit Stärke, oder eben dem Verlust derselben, argumentiert und sich selbst durch übertriebenen Anspruch auf Autonomie letztendlich schwächer macht. Das sieht man bei Trumps MAGA als auch bei den europäischen Nationalist*innen. Gemeinsames, koordiniertes Vorgehen schafft eine starke Verhandlungsposition. An dem Unvermögen, außerhalb des eigenen Egos die Stärken am gemeinsamen Team zu sehen, wird die Rechte wieder einmal kläglich scheitern. Diese Einsicht wird man aber leider wieder einmal zu spät erkennen und am Weg unendliches Leid generieren. Schafft es die Linke, früher stark zu werden?

  • Auf Interregnum erscheint ein spannender Beitrag zum aktuelle Krieg im Nahen Osten von Christopher Hütmannsberger. Dieser Beitrag ist lesenswert und ein valider Kommentar zur vermurksten Debatte im deutschsprachigen Raum. Ich will den Kommentar jetzt auch nicht wirklich kritisieren, sondern mehr ergänzen, weil ich in der Debatte um den Krieg im Nahen Osten sowohl im DACH Raum als auch im angelsächsischen Raum finde, dass ein wesentlicher Punkt immer unter den Tisch fällt.

    Wir sehen den Konflikt aus europäischer Perspektive und das ist wohl auch logisch so, wenn wir darüber hier diskutieren. Aber hier wird überhaupt nicht erwähnt, wie sich das jüdische Leben nach dem Zweiten Weltkrieg weiterentwickelt hat und dass sich im islamischen Raum die Kultur der Toleranz zu einer Kultur des Ausschlusses entwickelt hat. Juden aus Nordafrika und dem Mittleren Osten wurden vertrieben und nach Israel gedrängt.

    Dieser Umstand verschiebt das Gewicht des Arguments ‚the right to exist‘, weil während die Frage nach der Notwendigkeit eines Staates für anti-zionistische Juden und Jüdinnen in Europa und Amerika bequem gestellt werden kann, stellt sich die Frage für die sg. „arabischen Juden und Jüdinnen“ nicht. Und hiermit wird die Frage nach einem Kolonialismus Israels absurd.

    Um diesen Punkt möchte ich den guten Artikel ergänzen, weil ich in einem Punkt vollkomen d’accord mit der Aussage des erwähnten Artikels bin: Auge um Auge bringt keine Lösung. Auf keiner Seite. Der Teufelskreis kann nur durchbrochen werden, wenn man die Lust auf Rache austrocknet.

    Bezugnehmend auf den Artikel „Those days“ von Christopher Hütmannsberger auf Interregnum.

  • Das ist keine Kunst. Das ist Leni Riefenstahl: Diese sogenannte ‚incredible choreography‚ ist faschistoider Bullshit zum Quadrat und hier wird click-bait Ästhetik zur Vorbereitung auf die Neue Zeit eingesetzt. Besonders widerlich ist die Verbindung von harmlosen bis kitschigen offensichtlichen „Botschaften“ hinter aufgelösten Individuen unter Knute. Könnte Nordkorea sein. Könnte aber auch China sein, könnte ebenso Fackelmarsch oder Stalin-Parade benannt werden. Auf so einen Schweiß habe ich keine Lust mehr.

  • Die Wogen gehen derzeit hoch. Zunächst erreicht mich die Nachricht, dass das Projekt firefish auf der Kippe steht, heute lese ich, dass das troet.cafe nicht mehr lange überleben soll. Wenn das große Risikokapital ausbleibt und Instanzen aus Idealismus heraus betrieben werden, kann so etwas passieren. Das ist ‚part of the game‘. Dies ist einerseits die Erinnerung daran, als User/in nicht darauf zu vergessen, die Instanz, auf der man vor sich hinpostet, zu supporten. Im bin z.B. auch aus diesem Grund zu einer Instanz gewechselt, die es nur über Mitgliedsbeitrag gibt. Für mich ist das ein fairer Deal und es schützt auch ein wenig vor nicht erfüllten Erwartungen und Enttäuschungen.

    Diese Entwicklung ist aber kein Argument für eine zentrale Struktur. Das schöne am förderierten Sozialen Netz ist, dass es diese Bewegungen gut vertragen kann. Meine Prognose ist sogar, dass diese Zersplitterung allein durch den Umstand, dass Instanzen nicht immer zuverlässig sind und weil es einfach geht, immer kleinteiliger werden wird. Die Entscheidung von WordPress, das ActivityPub-Protokoll in seinen Dienst als Standard-Einstellung zu implementieren wird hier – auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole – der entscheidende Gamechanger werden.

    Wenn wir Glück haben und die Chance von den User/innen auch ergriffen wird, dann werden wir damit enden, dass es ganz viele eigene Instanzen gibt (bei wordpress ist das dann z.B. einfach nur ein Blog), die aber nicht vereinzelt agieren, sondern über das Fediverse miteinander verknüpft sind. Ich fände diese Entwicklung sehr begrüßenswert! Sie würden einem Mittelstand in den Netzdiensten einen neuen Schwung verleihen, die Monopole von großen zentralen Datensackgassen würden fallen und Informationskanäle und Vertriebswege würden diversifiziert und damit auch demokratisiert werden.

    Die Neuigkeiten aus dem förderierten Netz sind also keine Hiobsbotschaften, sondern sind ein Hinweis auf eine Entwicklung die, wenn sie in die richtigen Kanäle gelenkt wird, sogar begrüßenswert ist: Internet.

  • Diese Plattform hier wird mein Forum. Es gibt Kommentare zur Gegenwart, Hinweise zu Dingen und Phänomenen, die mich interessieren und ich werde meine Arbeit & Kunst hier auch intellektuell begleiten. Während der Fotoblog mehr für sich selbst sprechen soll, möchte ich hier parallel dazu auch Theorie zur Aktion spinnen. Meine Fragestellungen transparent machen und damit meine Entwicklung. Ich begreife das als Logbuch meiner Reise, es wird v.a. auch mir dazu dienen, mich später daran erinnern zu können, was ich mir da und dort gedacht habe, welche Fehler ich gemacht habe und was geglückt ist. Mir geht es darum, dem Zufall seine Kraft zu nehmen und meinen Willen in den Fokus zu rücken.

    Mit einer Frage, die mich im kommenden Jahr beschäftigen wird, will ich hier starten. Lange habe ich mein fotografisches Auge trainiert, um mittels Licht und Perspektive Flächen zu definieren und zu gestalten. Für mich war Fotografie immer im wörtlichen Sinn eine Form von Lichtmalerei. So habe ich hauptsächlich mit Architekturfotografie mein Auge geschult. Ich wollte Grafiken schaffen, deren Material die Reflexion von Stein, Glas und Beton fixiert. Dann war ich in Mauthausen und habe mit der gleichen Logik die Gebäude und Mauern dort auf Mittelformatfilm festgehalten. Das erste Mal seit langer Zeit hat mich dieser Ort und das, was er mit mir angestellt hat, in seinen Grundfesten erschüttert.

    Diesen Ort mit meinem Auge zu fotografieren wurde unzulänglich, weil meine Orientierung auf der Fläche mit dem Objekt diesmal nicht funktionieren will. Es ist mir in der Vergangenheit schon so gegangen, wenn ich Wohnblocks oder die neoliberalen Hochhäuser in Wien abgebildet habe. Immer war hier die Spannung zwischen einem widerwärtigen Motiv und meinem Versuch, der Lichtreflexion mit der richtigen Perspektive eine spannende Grafik zu entlocken. Nur bei Hochhäusern hatte ich da kein wirklich schlechtes Gewissen. Bei einem Konzentrationslager ist es schon etwas anderes.

    Ich bin zum Schluss gekommen, dass ich mein Training wieder von vorne beginnen muss. Der goldene Schnitt, der sich in meinen Fokus eingebrannt hat, muss nachjustiert werden, weil ich brauche eine Antwort auf die Frage nach der Ästhetik des Hässlichen. 2024 will ich versuchen, bewusst meine Gewohnheiten zu konterkarieren und vermeintlich schlechte Motive neu betrachten. Warum entscheide ich mich für eine Perspektive? Warum finde ich diesen Ort interessant? Wie kann ich Ausschluss korrekt begründen?

  • Wieso gibt es einen weiteren Blog neben dem KARLENDER? Und es stimmt, ich könnte die Inhalte auch gut zusammenführen und dort mein Portfolio aufbauen und andererseits schreiben, kommentieren und tippend nachdenken. Ich bin aber in erster Linie ein Ästhet. Eine Website, deren Schwerpunkt im Text liegt, braucht eine andere Aufteilung der Fläche, als ein Fototagebuch, welches zur gefilterten Präsentation meiner Filmscans dient. Das ist für mich der zunächst wichtigste Grund.

    Zum Zweiten ist es meine Erfahrung, dass Menschen mit Universalismus nichts anzufangen wissen. Sie wollen spezialisierte Häppchen und kein Karleidoskop. Mir persönlich ist das zu eng, aber ich will mich hier auch nicht über andere hinwegsetzen und habe mich daher dazu entschlossen, meinen content ein wenig zu sortieren. Wer mir auf Mastodon folgt, bekommt alle verschiedenen Aspekte meiner Tätigkeit zugespielt, aber es besteht nun auch die Möglichkeit, sich die Rosinen herauszupicken. Wieso nicht? Wer bin ich, um das anderen vorzuhalten?

    Ich wünsche daher viel Spaß mit diesem text-only WordPress-Blog Namens NEUSCHRECKEN. Der Name ist für mich Allegorie für die Schwarmintelligenz, die Pharaonen das Fürchten lehrt. Das wird sich wohl ein wenig als roter Faden durch diese Texte ziehen. „Friede den Hütten, Krieg den Palästen.“

  • Die Heuschrecken werden ein Nur-Text Blog mit Anbindung ans Fediverse. Logbuch für alle möglichen Themen.