Schlagwort: gemeinschaft

  • Karl Nehammer spricht von der Notwendigkeit der Mitte1, um die liberale Demokratie zu schützen. Soviel wiederholte Chuzpe von Seiten der ÖVP kann ich nicht unkommentiert stehen lassen. Nicht erst seit Christian Lindner hat der Begriff Liberalismus an Credits verloren, es ist ein schon lange gärender Prozess, der eigentlich mit Thatcher/Reagan begonnen hat. Ich möchte kurz aufdröseln, was den Begriff ‚liberal‘ derzeit so problematisch macht:

    Zunächst bringen die gegenwärtigen multiplen Krisen das liberale Bürgertum unter Druck. Corona, Ukraine und Klimawandel legen offen, dass unter liberal viel zu oft unbeschränkter Egoismus verstanden wird. Das betrifft die Fetischisierung von Mobilität (Diskussionen rund um das Autofahren, Flugzeugfliegen, etc.), die komplette Negation von Solidarität (Stichwort Masken) und das eigentümliche Verhältnis zu Putin (Diskussionen über Energiepreise). Hier hat sich in den Köpfen der Samen der 80er Jahre neoliberalen Gehirnwäsche durchgesetzt und bürgerliche Vernunft unter sich begraben.

    Aus dieser oben erwähnten Verirrung entstehen die falschen Antworten auf die innenpolitischen Fragen der Gegenwart, insbesondere in den Strategien, wie man auf den Erfolg des Faschismus reagieren sollte. Hier wird „mehr Profil in der Migrationsfrage“ gefordert, oder man besinnt sich auf den Begriff des Bildungsbürgertums (ebenso ausgehöhlt) und lamentiert über die ‚Bildungsferne‘ von Wähler*innen. Man will partout keine sozialen, wirtschaftlichen oder entwicklungspolitischen Entwicklungen analysieren, sondern verirrt sich in einer Diskursverschiebung nach rechts, die ignoranten Klassismus offenbart.

    Dieser Klassismus äußert sich in „Abstiegsängsten“, die den Blick nach oben trüben, aber dafür kräftig nach unten treten lassen. Die Verteidigung der ‚liberalen‘ Werte wird somit ein ekelhaftes Gezerre und unverständliches Festhalten am Status Quo. Damit macht sich das liberale Bürgertum zum konservativen Bodensatz für kommende autoritäre Blender.

    Alle diese Entwicklungen stoßen einen links-liberalen – so wie ich mich bezeichnen muss – permanent vor den Kopf. Sie offenbaren in der Selbstreflexion ebenso Fehler in der Einschätzung der Lage – bei mir z.B. das Verhältnis von Privileg zu Freiheit. Es ist aber vor allem die komplette Negation von Verantwortung und dem damit fehlenden Respekt gegenüber Leben, Umwelt, Geist und zukünftigen Generationen, der mich wirklich zornig werden lässt.

    Die bürgerliche Mitte in ihrem gegenwärtigen Zustand und in ihren derzeitigen politischen Erscheinungsformen von grün, über sozialdemokratisch bis bürgerlich-konservativ ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung. Ich rate daher allen jetzt beleidigten Liberalen zu einer fundamentalen Selbstreflexion. Ich bin nicht mehr Teil eurer Welt und ihr solltet darüber nachdenken, weshalb ihr diesen Sohn aus eurer Mitte verloren habt.

    1. https://orf.at/av/video/onDemandVideo4794 ↩︎
  • Die Social Media Landschaft ist wieder einmal in Bewegung. Wieder ist es ein November und wieder geht es um X bzw. Twitter. Diesmal betrifft es den Exodus (bekannt als eXit1) der Austro-Twitter-Blase. Für mich ist diese Bewegung spannend, weil ich vor zwei Jahren meinen eigenen Exodus praktiziert habe, dieser ging damals zu Mastodon2, ein weiteres soziales Netzwerk welches bei der heurigen Bewegung eher eine untergeordnete Rolle spielt. Das finde ich schade, v.a. weil Bluesky behauptet „förderiert“ zu sein, es aber nicht wirklich ist3, währenddessen die Plattformen, die auf dem ActivityPub-Protokoll laufen, es wirklich sind. Open source und nicht-kommerziell. Wenn ich von X fliehen würde, weil ein Oligarch seine Tassen im Schrank verloren hat, wäre das für mich schon ein relevantes Kriterium. Soll diesmal aber nicht so sein.

    Darüber will ich nicht lamentieren. Das passiert. Auf Mastodon gibt es Unverständnis, auf Twitter gibt es richtigen Zoff und bei Bluesky muss man sich selbstvergewissern. Was habe ich hier noch beizutragen?

    Mein Punkt ist, dass Bluesky nicht erst seit kurzem existiert und genauso wie Mastodon schon vor zwei Jahren ein ’sanctuary social network‘ gewesen ist, bei dem sich eigene Regeln herausgebildet haben, gibt es auch eine Bluesky-Kultur. Diese ist offenbar nicht von Netzpolitik-Foss-Nerds definiert worden und auch das müssen wir respektieren.

    Ist es nicht seltsam, dass die großen sozialen Netzwerke seit dem arabischen Frühling nicht mehr so richtig gut funktionieren. Das liegt vielleicht daran, weil es einen Split gegeben hat, der die Mobilisierungskraft der Netzwerke gelähmt hat. Ich beobachte, dass diese Segregation immer tiefer und kleinteiliger wird und ich finde das bedenklich, weil damit das Freiheits- und Netzwerk-Versprechen des Internets immer weiter zur Utopie verkommt.

    Ich bin ein große Anhänger des Fediverse, ich halte dies für die richtige Technologie für ein feines Internet der Zukunft. Aber es ist ebenso wichtig, alle möglichen Protokolle und Türen offen zu halten, um miteinander im Kontakt und Austausch zu bleiben. Es kann nicht sein, dass wir Menschen nur Netzwerk etablieren, um als Konsument:innen besser berechnet werden zu können. Wir brauchen das Netzwerk auch als zeitgemäßes ‚res publica4‚ für unsere Meinungs- und Willensbildung. Also freut Euch über neue Möglichkeiten und nutzt diese. Klärt auf und diskutiert gemeinsam, damit wir das wieder lernen können.

    1. https://www.derstandard.at/story/3000000245302/wolf-brodnig-klenk-wechseln-von-musks-hate-speech-schleuder-x-zu-bluesky ↩︎
    2. https://kolektiva.social/@schoenswetter/113508705774938278 ↩︎
    3. https://ingo.lantschner.name/post/2024-11-19-twitter-bluesky-journalisten/ ↩︎
    4. https://de.wikipedia.org/wiki/Republik ↩︎